mittellateinische Sprache

mittellateinische Sprache
mittel|lateinische Sprache,
 
Mittel|latein, Bezeichnung für das im europäischen Mittelalter geschriebene und gesprochene Latein. Seine grundlegende Bedeutung als Kirchen-, Wissenschafts-, Verwaltungs- und Verkehrssprache erklärt sich dadurch, dass die Volkssprachen in Westeuropa nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches fast nur in mündlicher Form ausgebildet waren und erst allmählich zur Schriftlichkeit gelangten.
 
Die mittellateinische Sprache basiert v. a. auf der spätlateinischen Literatursprache. Obwohl die Kirche jahrhundertelang die alleinige Trägerin der Bildung war, entwickelte sich die mittellateinische Sprache nicht kontinuierlich: Einerseits wurde - anders als im Humanismus - keine Epoche der lateinischen Sprache als normbildend erklärt, andererseits war bereits das Spätlatein durch äußerst heterogene Einflüsse geprägt. Ferner waren die Voraussetzungen, unter denen im Mittelalter Latein gelernt und verwendet wurde, sehr unterschiedlich; schließlich richtete sich der Sprachgebrauch eines Autors nach den jeweiligen sachlichen Bedürfnissen und stilistischen Ansprüchen oder nach den Anforderungen einer literarischen Gattung.
 
Die frühe mittellateinische Sprache ist auf dem europäischen Kontinent in Formenlehre und Syntax stark von vulgärlateinischen Elementen, in Irland und auf den britischen Inseln dagegen von einem bizarren, oft gekünstelten Vokabular geprägt. Aufgrund der Bildungsreform Karls des Großen (karolingische Renaissance) wurde das Latein - nach einer Epoche sprachlicher Regionalisierung - wieder nach den Regeln der antiken Literatur gelehrt. Grammatische Handbücher sowie der ständige Umgang mit sprachlich korrekten Texten ermöglichten die Beherrschung des Lateins. Eine lebendige Entwicklung der mittellateinischen Sprache wurde dadurch jedoch nicht behindert. Auffallende Abweichungen gegenüber dem antiken Latein zeigen sich etwa in der Orthographie, v. a. im Hoch- und Spätmittelalter (z. B. mittellateinisch gracia gegenüber klassisch lateinisch gratia »Anmut«, »Gunst«, »Gnade«, mittellateinisch celum gegenüber caelum »Himmel«). Auch volkssprachliche Einflüsse wurden nach Bedarf aufgenommen (z. B. marchio »Markgraf«, bannire »bannen«). Andererseits konnten bekannte Wörter neue Bedeutungen annehmen (comes neben ursprünglich »Begleiter« nun auch »Graf«); ferner entstanden viele fachsprachliche Neubildungen (besonders im Latein der Scholastik), die zum Teil bis heute fortleben (z. B. individualitas »Individualität«). Seit dem 14. Jahrhundert polemisierten die Humanisten v. a. gegen dieses scholastische Latein und brachten damit - zu Unrecht - die gesamte mittellateinische Sprache als »Mönchs-« oder »Küchenlatein« in Verruf. Mit der Ausrichtung des Unterrichts allein auf die klassische Sprache Ciceros wurde das Latein im ausgehenden Mittelalter aus seiner organischen Verbindung mit dem spätantiken Latein einerseits und den Volkssprachen andererseits herausgerissen.
 
 
Mittellat. Philologie. Beitr. zur Erforschung der mittelalterl. Latinität, hg. v. A. Önnerfors (1975);
 K. Langosch: Lat. MA. Einl. in Sprache u. Lit. (51988).

Universal-Lexikon. 2012.

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